Frankfurter Allgemeine Zeitung
Samstag, 10. Juni 2000, Nr. 134, Seite 15
Junge Menschen brauchen ökonomische Bildung
Eine Voraussetzung für die Teilhabe an der Gesellschaft / Von Josef Kraus

In einem Land wie Deutschland, das sich als eine der führenden Wirtschaftsnationen zu einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft wandelt, ist eine ökonomische Grundausbildung in den Schulen unabdingbar. Damit ist es aber schlecht bestellt, vor allem in den höheren Schulen. Nachdem bereits das Deutsche Aktieninstitut im letzten Jahr die Einführung eines Schulfachs Ökonomie gefordert hatte, hat jetzt der Deutsche Lehrerverband in einem Memorandum eine ökonomische Grundbildung von mindestens zweihundert Stunden gefordert. Auch das neue Projekt „Jugend und Wirtschaft“ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zusammen mit dem Bundesverband deutscher Banken , das im Herbst 2000 beginnt, soll einen Beitrag zur wirtschaftlichen Aufklärung leisten. Josef Kraus, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes hat zum Auftakt in Berlin vor Schulleitern einen grundsätzlichen Vortrag gehalten, den wir gekürzt wiedergeben.

 
Wie Literatur, Musik, Kunst, Architektur, Wissenschaft, Technik, Rechtswesen, Bildungswesen, Gesundheitswesen, Sport und wie Werthaltungen, Sitten oder Gebräuche ist die Ökonomie Teil einer jeden Kultur und Zivilisation. Für die Enkulturation und Sozialisation zumal junger Menschen heißt das: Wenn Erziehung und Bildung auf ein Leben nach Kindheit und Schule vorbereiten sollen, dann muss ökonomische Grundbildung Teil der Allgemeinbildung sein.
Ökonomisches Wissen und die Fähigkeit, selbstbestimmt in wirtschaftlich relevanten Handlungssituationen zu agieren, sind schließlich wesentliche Voraussetzungen für die Teilhabe eines Menschen an der Gesellschaft und für dessen Freiheit im Handeln und Urteilen. Dies gilt zumal in Zeiten, in den ökonomische Abläufe immer komplexer und globaler werden. In wirtschaftlichem Wissen und Handeln erfährt sich der Mensch zudem als homo politicus". Dem jungen Menschen erschließt sich gerade über die Kenntnis der ordnungspolitischen Rahmenbedingungen eines Wirtschaftssystems das jeweils kulturell bestimmte Bild von seinen Gesellschaften und seinen Staatsformen. Insofern ist der ökonomische mündige Wirtschaftsbürger, der in dieser Funktion konkrete Rollen einnimmt, beispielsweise die des Konsumenten und Arbeitnehmers.
Die Spannung von Gleichheit und Freiheit.
Nun hat sich Deutschland nach dem Krieg, als vereintes Deutschland ab 1990, für die Soziale Marktwirtschaft entschieden. Diese Wirtschaftsordnung ist sowohl hinsichtlich des Markt- und Eigentumsgedankens als auch hinsichtlich der Sozialpflichtigkeit des Eigentums grundgesetzlich garantiert. Hinter diesen Gedanken stehen die Prinzipien der Eigenverantwortung, der Subsidiarität und der Solidarität. Die Vermittlung dieser Prinzipien muss deshalb weiteres Leitmotiv einer realitätsnahen ökonomischen Grundbildung sein; sie ist damit zugleich ein Beitrag zur Erziehung zur Demokratie und zum verantwortlichen Gebrauch von Freiheit.
 
Der Mensch ist auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit angelegt. Er ist zu dieser Entfaltung befähigt, und er ist im freien Rechtsstaat mit Sozialer Marktwirtschaft dazu berechtigt. Fälschlicherweise wird in Gesellschaft und Politik jedoch immer wieder ein Vorrang der Gleichheit vor der Freiheit gepflegt. Freiheit aber schließt totale Gleichheit der Menschen aus. Freiheit erliegt jedoch gerne der Gleichheit, weil Gleichheit eine greifbare Tatsache sei, weil Freiheit mit Opfern erkauft werden muss und weil Gleichheit ihre Genüsse von selbst darbietet. Die Segnungen der Gleichheit sind schließlich bequem zu nutzen, weil damit Leistung, Initiative und Risiko ausgeschaltet würden, Freiheit dagegen Anstrengung verlangt. Am Ende könnte vielen Menschen Gleichheit in Knechtschaft lieber sein als Ungleichheit in Freiheit.

Das Spannungsverhältnis von Gleichheit und Freiheit bleibt stets bestehen, weil es nicht aufhebbar ist auch ökonomisch nicht. In jeweiliger Reinform schließen sich Freiheit und Gleichheit aus. Wenn die Menschen frei sind, dann sind sie nicht gleich, und wenn die Menschen gleich sind, dann sind sie nicht frei. Freiheit ist zudem immer Freiheit in Bindung, immer Freiheit in Verantwortung und immer zugleich Freiheit des anderen. Daraus erwächst das Prinzip der Sittlichkeit.

Für Bildung und Erziehung heißt das: Für Bildung und Erziehung ist Freiheit die Chance schlechthin zur Verwirklichung von Persönlichkeit. Egalitäre Politik oder Erziehung dagegen ebnet Individualität ein. Bildung und Erziehung haben deutlich zu machen, dass die größte Gefahr, die Gleichheit mit sich bringt, die ist, dass der Mensch in der Gleichheit, die Fähigkeit zum selbstständigen Denken und sittlichen Handeln verliert. Zu diesem umfassenden Verständnis von politischer, staatsbürgerlicher Grundbildung und von Freiheit gehört es, jungen Menschen klarzumachen, dass, Staat und Gesellschaft unterschiedliche Sachverhalte sind. Weil Gesellschaft und Gemeinschaft immer noch dazu neigen, Aufgaben an den Staat zu delegieren (bis hin zu ureigenen erzieherischen Aufgaben), ist der Staat bekanntermaßen an die Grenzen seiner Belastbarkeit gelangt. Er wird vielfach nur noch verstanden als allmächtige Sozialagentur, als omnipotenter Dienstleister, als totalitärer Versorgungsstaat und als Garant für die Erfüllung von Vollkasko-Ansprüchen. Dadurch wird das Prinzip „Eigenverantwortung“ vernachlässigt.

Gerade hier muss ökonomische Grundbildung ansetzen, denn ohne Folgen hypertropher Vorstellungen vom Staat sind gravierend; es entstehen daraus nämlich der Glaube an die Machbarkeit aller Ansprüche, eine Mentalität des „Vollkasko ohne eigenbeteiligung“ sowie eine Staats- und Politikverdrossenheit, wenn der Staat nicht fähig ist, alle Ansprüche zu erfüllen.

Für den Einzelnen wiederum sind die Folgen dieser an den Staat gerichteten Allmachtserwartungen ein allmähliche Entmündigung, ein Verlust an Freiheit durch hohe Abgabelasten und ein Verführen zur Bequemlichkeit.


Insofern muss die schulische Perspektive einer ökonomischen Grundbildung in erster Linie makroökonomisch ausgerichtet sein, indem sie bestimmte grundsätzliche Einsichten und Haltungen fördert: etwa dass eine soziale und ökologisch orientierte Politik ohne leistungsfähige Marktwirtschaft, ohne wissenschaftlich-technische Innovation, ohne Förderung von Selbständigkeit und von Selbstständigen, ohne Stärkung des Standortes Deutschland und ohne die millionenfache Leistung jedes Einzelnen nicht zu machen ist, dass der Unendlichkeit der Bedürfnisse die Endlichkeit der Mittel gegenübersteht und der Staat keine soziale Breiband-Therapeutika parat haben kann; dass der Staat nicht Glückslieferant sein kann, sondern subsidiär nur Ermöglicher von Glück.

Der junge Mensch muss sodann darauf vorbereitet werden, dass ökonomisches Handeln immer auch den Maßstäben der Sittlichkeit zu unterliegen hat - beispielsweise der Rücksichtnahme gegenüber den Mitmenschen und gegenüber der Natur. ökonomische Grundbildung impliziert in sofern immer noch Werte-Erziehung.

Der Mensch erfährt seine Existenz sodann – auch seine Existenz als "homo oeconomicus – vor allem in aktiver Auseinandersetzung mit der Welt. Seine Arbeit und seine Leistung als „homo faber“ sind Ausdruck des Höchstindividuellen, zugleich Motor und Ergebnis freier Persönlichkeitsentwicklung. Leistung hat zudem eine ökonomische und soziale Dimension, sie ist insofern nie nur Individualleistung - Leistung für andere, für Schwächere und Benachteiligte. Das gilt zumal für Eliten, ohne die kein Gemeinwesen auskommt. Menschen wachsen mit ihrer persönlichen Leistung über sich selbst hinaus, und sie verankern mit jedem neuen Wissen und Können ihr individuelles, konkretes Dasein in Vergangenheit und Gegenwart. Menschen bekommen damit eine Vorahnung davon, dass man mit wissen und Können sich selbst überschreitet, um mitzuwirken am Ganzen.

Und der Mensch findet -  weil es die Konkretisierung des Prinzips Arbeit ist - seine maßgebliche Teilhabe am Wirtschaftssystem durch seinen Beruf. Insofern ist berufliche Bildung per se Teil der ökonomischen Bildung. Ihr muss im Interesse einer mündigen Teilhabe am Wirtschaftssystem im allgemein bildenden Schulwesen eine berufliche Orientierung vorausgehen etwa durch Förderung der Berufswahlreife, Betriebserkundungen und Betriebspraktika, Training in Bewerberverhalten. Weil zukünftig ein erheblich größerer Anteil der Berufstätigen selbstständig als Unternehmer tätig sein wird, gehört es zur ökonomischen Grundbildung, diese Form der Erwerbstätigkeit bereits schulisch hervorzuheben.

Die Vermittlung ökonomischer Grundkenntnisse bereits in den Jahrgangsstufen fünf bis zehn und nicht erst in der gymnasialen Oberstufe oder in der beruflichen Bildung ist zwingend notwendig. Dies kann in einem eigenen Fach geschehen. Mehrere Bundesländer praktizieren es so, etwa im Rahmen der Fächer Arbeitslehre, Wirtschaftslehre, Haushaltslehre, des Faches Wirtschaft/Recht oder im Fachbereich AWT "Arbeit-Wirtschaft-Technik".

Aufgrund der hohen Komplexität und der ausgeprägten Interdisziplinarität ökonomischer Grundfragen spricht aber vieles dafür, ökonomische Themen nicht in einem einzigen eigenen, sondern in mehreren Fächern zu behandeln. Die Fächer Politik/Sozialkunde, Geschichte und Erdkunde haben dabei natürlich eine Leitfunktion. Eine zumindest flankierende Aufgabe kommt aber den Fächern Deutsch, Fremdsprachen, Religion/Ethik sowie Mathematik und den Naturwissehschaften zu. Wie auch immer. Der Bedarf an einer soliden ökonomischen Grundbildung ist jedenfalls insgesamt auf mindestens 200 Unterrichtsstunden den zu beziffern.

Bei der Auswahl der Themen der ökonomischen Grundbildung im allgemeinbildenden Schulwesen sollte größter Wert auf das Wesentliche gelegt und eine Vorwegnahme von Elementen der ökonomischen Bildung der berufsbildenden Schulen vermieden werden. Verbindlich müssten vor allem folgende Inhalte sein:

Eine wichtige Rolle bei der Vermittlung dieser Themen spielen außer der Lehrerqualifikation natürlich die Lehrpläne und Schulbücher. Letztere leiden nach wie vor darunter, dass Wirtschaft, Technik und Beruf sowie ökonomisches Basiswissen viel zu schwach repräsentiert sind. Auch fehlt es in den Schulbüchern weitestgehend an einer Darstellung des wirtschaftlichen Unternehmertums und des Ehrenamtes.

Umso mehr sind die Schulen selbst gefordert. In methodischer Vielfalt kann Ökonomie attraktiv vermittelt werden. Dazu gehören neben herkömmlichem Unterricht: Erkundungen, Praktika, Planspiele, Fallstudien, Exkursionen, Computersimulationen, Internet-Recherchen, Schülerfirmen und Ähnliches.

Auch für den ökonomischen Bereich der Bildung gilt ansonsten, was für den politischen Bereich gilt. Solche Bildung braucht in erster Linie Wissen. Karl Jaspers stellte dazu fest: "Die politische Erziehung verlangt das Studium von Büchern. Der Bundesdeutsche hat zuerst das Grundgesetz zu lernen als den Eckstein unseres freien staatlichen Daseins, als den einzigen festen, unantastbaren Halt. Dann aber sollen die Hauptwerke politischen Denkens studiert werden, zum Beispiel, Aristoteles, Cicero, Machiavelli, Spinoza, Kant, Tocqueville, Max Weber." Überhaupt erscheint eines als besonders wichtig: über alle Wissensgebiete hinweg die Steigerung schulischer Bildungsqualität durch eine Renaissance des Wissens. Zugleich wird unsere Gesellschaft heute als Informationsgesellschaft bezeichnet. Das ist aber vermutlich ein Teil des Problems. Denn Information, das ist etwas Steriles, etwas Flüchtiges. Wissen, das ist das Lebendige, das Beständige, das Gewichtige, das Bewertete. Deshalb brauchen wir eine Wissensgesellschaft, keine Informationsgesellschaft. Wir wollen uns auch nicht erschrecken lassen von immer kürzeren so genannten Halbwertzeiten des Wissens. Es mag ja eindrucksvoll sein, dass das Wissen des Jahres 1999 im Jahre 2002 zur Hälfte überholt ist. Aber: Es gibt unendlich viel Wissen, das sich nicht überholt. Das Einmaleins hat eine unendliche Halbwertzeit. Das gleiche gilt für historische Fakten, für die große Literatur, für anthropologische Grundtatsachen, für ökonomische Grundgesetze. Und auch Englischvokabeln haben eine Halbwertszeit von ein paar hundert Jahren, lateinische ohnehin. Ein solches breites Wissen ohne Verfallsdatum ist zugleich die unerlässliche Voraussetzung für die Fähigkeit zur Zusammenschau. Wer erfinderisch und innovativ sein möchte, der möge erst einmal viel, sehr viel wissen, - wo man etwas nachschlagen oder im Internet surfend - herunterladen kann.

Natürlich ist es wichtig zu wissen, wo man etwas findet. Aber: Man stelle sich eine politische, eine naturwissenschaftliche oder eine ökonomische Live-Debatte vor, in der die Debattenpartner zwar wissen, wo man etwas findet, in der sie aber ständig zum Bücherregal rennen oder sich ins Internet einklinken, um sich Fakten und Argument zu suchen. Eine solche Download-Gesellschaft mit ihrem Häppchen- und Just-in-time-Wissen wäre eine Gesellschaft ohne Vorrat.
Wissen hat darüber hinaus eine wichtige staatsbürgerliche Funktion. Denn: Wer nichts weiß, muss alles glauben! Das gilt zumal für ökonomische Grundfragen – gerade wegen der Verführungslust politischer Gurus und der weit verbreiteten naiven, weil kenntnislosen Verführbarkeit vieler Menschen in ökonomischen Grundfragen. (Man denke nur an wirtschaftspolitische und steuerpolitische Versprechungen von Wahlkämpfern!)

Und man denke sich generell einen Menschen ohne Wissensfundus. Er wäre das Lieblingsobjekt eines jeden Diktators oder Demagogen. Denn dieser Unwissende wäre verführbar für jede Lüge, außerdem anfällig für jedes Angst machen und für jedes Propagieren von Vorurteilen. Nicht umsonst lautet ein Wahlspruch in Orwells düsterer Vision "1984": Unwissenheit ist Stärke! Und ebenso eindrucksvoll kennzeichnet Reiner Kunze Indoktrination aus leidvoller DDR-Erfahrung, wenn er dichtet: "Unwissende - damit ihr unwissend bleibt - werden wir euch schulen."

Nach dreißigJahren des curricularen Vakuums ist in allen Fachbereichen eine Renaissance des Wissens überfällig. Und es ist eine Kanon-Dehatte angesagt. Die vielfach beschworenen Schlüsselquafifikationen, können eben nicht im fachfreien und faktenfreien Raum gedeihen.

Der Laptop als neuer Nürnberger Trichter

Die so genannte moderne Schulpolitik ist dabei, sich von den Printmedien zu verabschieden. Man ist dabei, einen Nürnberger Trichter zu erfinden. In den zwanziger Jahren meinte man, Radios kämen Lehrer ersetzen. In den Fünfzigern traute man das den Fernsehern zu. In den Sechzigern der Glaube an das Programmierte und an das Sprachlabor. Nach diesen längst verflogenen Euphorien haben sich progressive Schulpolitiker und Pädagogen jetzt eine neue technizistische Vision von angeblich mühelosem Lernen angelacht. "Laptop statt Schulranzen", heißt die Parole. Und: Die Schüler sollen auf dem Datenhighway ins Klassenzimmer starten.

Damit ist, ein neues Trichter-Stadium angesagt: das Stadium des elektronischen Nürnberger Trichters. Die Rezepte, von denen man in beschleunigter Angebotsfrequenz liest, heißen dann beispielsweise so: didaktische Hyperlinks, Edutainment, interaktive Lernumgebung, knowledge-machines, Lernanimation, Multimedia-Learning, Online-learning, Teachware, Telelearning, Teleteaching, virtuelles Klassenzimmer. Schöne Visionen, die da heraufziehen -Visionen von einer Schule, in der der Computer für das Kognitive zuständig sein soll und in der sich der Lehrer auf das (Sozial-) Pädagogische konzentrieren könnten! Aber es sind, wie so viele Visionen, Trugbilder.

Schule muss nicht zur Pflanzschule für Multimedia?Freaks werden. Dafür gibt es auch aus der Perspektive der ökonomischen Grundbildung keinen Grund. Schule wird sich aber mit der mikroelektronisch möglich gemachten Erweiterung menschlicher Kulturtechniken auseinander setzen und mit dem Blick auf den PC schlicht und einfach Maschinenschreiben lehren müssen.

Es mag ja sein, dass Hardware und Software unschlagbar sind im Suchen, Speichern, Rechnen. Doch es sind die Menschen, auch die jungen, die unschlagbar sind im Auswählen, im Bewerten und in der Interpretation. Bewegen muss Pädagogen die Frage, ob vor allem der junge, vernetzte Multimedia-Mensch ab einem gewissen Stadium des Informationskonsums überhaupt noch die Fähigkeit besitzt, zwischen faktischer Realität und virtueller, medialer Realität zu unterscheiden oder ob er nicht - weil Computer ja keine Welt außerhalb der eigenen kennen - bereits einer höchstselektiven "Windowisierung“ von Wirklichkeit ausgesetzt ist. Aldous Huxley jedenfalls hätte seine Freunde an solch neuer Welt.

Immerhin, könnte das Ergebnis multimedialer Vernetzung eine Art Kasper-Hauser-Syndrom sein. Der Nutzer von Multimedia gerät damit in die Nachbarschaft eines isolierten Menschen. Hier wäre man an einem Punkt angekommen, wo Information Kommunikation tötet, weil weil sich jeder nur noch das an Information sucht, was er braucht, und nur noch darüber redet.

Die Einführung von Schülern in die Nutzung des Internet, die Einspielung der aktuellen Aufnahmen eines Wettersatelliten in den Erdkundeunterricht, die Computersimulation eines Experiments im Chemieunterricht, das Abrufen aktueller Börsenentwicklungen oder Wechselkurse im Wirtschaftsunterricht – all dies und vieles andere elektronische mehr ist für die Schule ansonsten selbstverständlich und in nichts revolutionär.

Diese Skepsis ist kein Anlass zur Maschinenstürmerei. Aber eines schein zumindest vonnöten: Schule sollte im Kern bei einer Kommunikation bleiben, die unmittelbar, personal, sozial und damit human ist. Schließlich geht es in Fragen der Information und Kommunikation auch um das Bild vom Menschen. Dabei ist vor allem auf junge Menschen zu setzen, die nicht zu Infokraten werden, die nicht mit Informationen herrschen oder von Informationen beherrscht werden, die Kommunikation als etwas Menschliches und nicht als etwas Technisches erfahren und praktizieren. Jedenfalls muss Schule aufpassen, dass sie nicht mit einer Sintflut an elektronisch aufbereiteten Daten und Informationen einem Tyrannen die Tür öffnet, der sie „vernetzt“, verstrickt, fesselt und ihrer Freiheiten beraubt. Das Lesen -  ob im Buch, in der Zeitung oder auf dem Bildschirm - wird nicht aus der Mode kommen - im Gegenteil. Die Stiftung Lesen hat einmal formuliert: Wer liest, entwickelt Phantasie und Kreativität. Wer liest, kann sich besser ausdrücken und hat im Leben mehr Erfolg. Wer liest, kommt weiter im Beruf. Wer liest, hat einen Wissensvorsprung und kennt die Wege zu vielen Informationsquellen.

Und Gedrucktes lesen zu könmnen und lesen zu wollen, das bleibt trotz des Angebots an elektronisch aufbereitetet Information, womöglich sogar wegen der Flüchtigkeit dieser Information, die Kulturtechnik schlechthin. Bücher und Zeitungen stehen keineswegs auf verlorenem Posten! Gedrucktes reflektiert lesen zu können und lebenslang lesen zu wollen, das bleibt die bis ins hohe Alter notwendige und nutzbare Mitgift eines jeden Menschen. Wer diese Mitgift sich selbst oder anderen, zumal jungen Menschen, vorenthält, der raubt sich selbst oder anderen ein großes Stück Zukunftsfähigkeit. Darüber hinaus wäre es zu wünschen, wenn Schüler dafür gewonnen werden könnten, regelmäßig Tageszeitungen zu lesen. Das wäre im Interesse ihrer ökonomischen und ihrer politischen Bildung.

Wenn von ökonomischer und computerisierter Bildung die Rede ist, dann muss auch vom kulturellen Auftrag der Schule die Rede sein. Dieser Auftrag droht mir heutzutage in Zeiten eines da und dort verbreiteten, blanken - auch schulpolitischen - Denkens in Kategorien des Utilarismus und Funktionalismus in Vergessenheit zu geraten.

Jedenfalls wird etwa seit Mitte neunziger Jahre nahezu zwanghaft - visionär eine stets neue Schule durch die Gazetten gejagt. Mal ist es eine "autonome" Schule. Ein andermal wird - wie umwerfend neu! -Schule als "Haus des Lernens" proklamiert, wieder ein andermal ist eine "neue Kultur der Anstrengung" angesagt. Man merkt offenbar, was einem durch eigenes schulpolitisches und vermeintlich -"erziehungswissenschaftliches Zutun abhanden gekommen ist. Böse Zungen behaupten gar, Schulpädagogik sei ein Friedhof, auf dem beständig Prinzipien zu Grabe getragen werden, um wenig später deren Auferstehung zu feiern.

Das Ökonomische gehört zur Kultur

Nun aber hat protzige Management-Theorie die Schule erfasst. Folge: Amtliche Schulpolitik samt ghostwritender interner und externer Hilfstruppen sind - statt zum Nach- und durchdenken - aufgebrochen zum An- und Querdenken. Halbtrunken torkelt man einer durchgestylten Schule entgegen, die geprägt sein sollte von: total Quality Management, Workshops, Brainstorming, Sponsoring, Bottom-up-Methode, Controlling, Evaluation, Corporate Identity, Budgetierung, Just-in-time-Knowledge.

Ansonsten scheint vor allem Laptop statt Schulranzen angesagt. Was kommt bei allem heraus? Wahrscheinlich eine Schule des Lean Management und der Fast-Education. Womöglich ist es eine Schule des Kultur-Managements statt der Kultur; eine Schule der Totalplanung statt des gelassenen Führens; eine Schule der Verpackungen statt der Inhalte und statt des Kanons eine Schule der Häppchen und der „events“; statt der geistigen Unterkellerung eine Schule der Flüchtigkeit statt der Konzentration.

Es geht mir in Sachen Bildung – weil sie sonst nicht mehr Bildung, sondern nur noch Ausbildung ist – schon sehr um den Eigenwert des Nicht-Ökonomischen. Letzterer Wert ist mir besonders deshalb wichtig, weil nur dann auch das vermittelbar ist, was wir kulturelle Identität nennen.

Eine wichtige Rolle in Bildung und Erziehung spielen nun einmal Fragen der Identität, das heißt Ausmaß der Übereinstimmung des Einzelnen mit sich selbst und das Ausmaß der Internalisierung von Werthaltungen.

Solche Identität, eine individuelle ebenso wie eine kulturelle oder kollektive, definiert sich nicht aus modisch definierten „skills“, sondern nur aus der „Er-Innerung“ des historisch-kulturellen Erbes. Das ist der Grund, warum totalitäre Systeme zur Proklamation einer ewigen Gegenwart neigen. Er-Innern ist damit Chance des Widerstanders und der befreienden Kraft gegen die Indoktrination. Eine Erziehung und Bildung ohne Tradition und ohne historisch-narrative Elemente aber wäre eine Verweigerung der Identität.

Wissen um Tradition ist außerdem Voraussetzung für die Fähigkeit, Neues zu erleben. Ohne ein Wissen um Tradition können kein Verstehen von Gegenwart und kein Bewusstsein des Wandels zustande kommen. Dies gilt, im Besonderen auch für die politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen „Architektur“-Prinzipien unseres Gemeinwesens, nämlich die Prinzipien der politischen Freiheit, der Eigenverantwortung, der Demokratie und der Sozialen Marktwirtschaft. Man muss diese Prinzipien – auch aus staatsbürgerlichen Gründen wissen und kennen.

Ansonsten gilt: Eine zukunftsfähige Schule leistet gerade in Zeiten der Globalisierung Identitätsstiftung und Orientierung. Vor allem kann sie das mittels historischer Grundbildung. Zukunft ist Herkunft (Martin Heidegger). Das bedeutet: Wer die Zukunft gestalten will, der muss wissen; woher er kommt.
 

Das Ökonomische gehört zu Kultur und Zivilisation - ebenso wie Literatur, Musik, Kunst, Architektur, Wissenschaft, Technik, Rechtswesen, Bildungswesen, Gesundheitswesen, Sport und wie Werthaltungen, Sitten oder Gebräuche.

Wenn also Erziehung und Bildung auf ein Leben nach Kindheit und Schule vorbereiten sollen, dann muss ökonomische Grundbildung Teil der Allgemeinbildung sein. Das muss so sein: weil ökonomisches Wissen und die Fähigkeit selbstbestimmt in wirtschaftliche relevanten Handlungssituationen zu agieren, wesentliche Voraussetzungen für die Teilhabe eines Menschen an der Gesellschaft sind und weil sich der Mensch in wirtschaftlichem wissen und Handelns als „homo politicus“ erfährt.
 

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