DER SPIEGEL 6/2002 - 04. Februar 2002
SONJA NIEMANN, MICHAEL SAUGA, CHRISTOPH SCHLEGEL

Die deutsche Krankheit

Die Zahl der Arbeitslosen steigt und steigt - und die schwache Konjunktur ist nur eine der Ursachen: Gewerkschaften mauern. Die rot-grüne Regierung verhindert mit immer mehr Gesetzen, dass neue Jobs entstehen. Der Arbeitsmarkt funktioniert nicht mehr.

Für Walter Riester war der 28. Juli 2001 ein Tag großer Werke und noch größerer Worte. Nun "können Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihren sozialen Dialog auf einer modernen Grundlage fortsetzen", jubelte der Arbeitsminister in formvollendeter sozialdemokratischer Reformsemantik, das "Erfolgsmodell Betriebliche Mitbestimmung" sei endlich "fit für die Zukunft".

Für Andrea Ruhstrat war der 28. Juli 2001, an dem Riesters große Mitbestimmungsreform in Kraft trat, ebenfalls ein einschneidendes Datum: Vor dem Stichtag beschäftigte die Unternehmerin in ihrem Installationsbetrieb 210 Mitarbeiter, danach nur noch 194.

In der Göttinger Firma entfaltet die reformerische Höchstleistung des Arbeitsministers ihre Wirkung als Job-Killer: Nach dem Riester-Gesetz hätte Ruhstrat ihren Betriebsrat von der Arbeit freistellen müssen, denn die entsprechende Grenze ist von 300 auf 200 Mitarbeiter abgesenkt worden. Doch mit 50 000 Euro im Jahr würde ein freigestellter Betriebsrat so viel wie ein neues EDV-System kosten. Zu teuer für die Unternehmerin, die seither ein Dutzend Auszubildende weniger beschäftigt - um auf jeden Fall unter der Riester-Schwelle zu bleiben.

Eifrig überzog Riester die Republik mit immer neuen Beweisen rot-grünen Gestaltungswillens: 325-Euro-Gesetz, Mitbestimmungsreform, Tariftreuevorschrift. Was Experten kaum für möglich hielten, des Kanzlers liebster Sozialingenieur schaffte es: Der ohnehin schon bürokratische und unbewegliche Job-Sektor wurde - Riester sei Dank - noch bürokratischer und unbeweglicher.

Unter Rot-Grün hat sich damit eine Entwicklung noch beschleunigt, die diverse Regierungen in Bonn und Berlin bereits vor über einem Vierteljahrhundert angestoßen hatten: Mit immer neuen Gesetzen, Vorschriften und Auflagen verwandelten sie den deutschen Arbeitsmarkt in ein weltweit belächeltes Lehrbeispiel für Bürokratie und Erstarrung.

Von "Verkrustungen" spricht die EU-Kommission in einem Gutachten, über eine "hohe Regulierungsintensität" klagen die Wissenschaftler im Bündnis für Arbeit.

Die Folgen sind fatal. An diesem Mittwoch veröffentlicht die Bundesanstalt für Arbeit die neuen Arbeitsmarktzahlen - sie werden bei etwa 4,3 Millionen liegen und damit bedrohlich nahe an dem Niveau der späten Kohl-Jahre. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hatte Gerhard Schröder zum wichtigsten Ziel seiner Amtszeit ausgerufen, an dem er sich "messen lasse". Seit dieser Woche ist klar, dass er ausgerechnet im Wahljahr am eigenen Anspruch gescheitert ist.

Das alles sei eine Folge der Konjunkturschwäche, wird sich der Kanzler rechtfertigen, von Sondereinflüssen wird die Rede sein und von der schlechten Lage in der Bauindustrie - eben eine bedauerliche Delle in der ansonsten so positiven deutschen Job-Bilanz. Schließlich sind seit 1999 etwa 600000 neue Vollzeitstellen entstanden.

Ökonomen bezeichnen das Leiden als "deutsche Krankheit" oder technisch: als "hohe Beschäftigungsschwelle". Gemeint ist damit: Deutschland braucht mehr Wirtschaftswachstum als andere Länder, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Brummt die Konjunktur also überdurchschnittlich, wie 1999 und 2000, entstehen zwar tatsächlich neue Jobs. Wächst die Wirtschaft aber nur mäßig, wie all die Jahre zuvor, gehen Stellen verloren.

Nahezu alle großen Industrienationen haben im vergangenen Jahrzehnt Millionen neuer Arbeitsplätze geschaffen: die USA 23 Millionen, Großbritannien knapp 2 Millionen und selbst die kleinen Niederlande noch rund 1,8 Millionen. Nur in Deutschland ging im selben Zeitraum die Zahl der Arbeitsplätze zurück. Seit 1991 hat die Bundesrepublik, der Exportweltmeister und Technologiegigant, 265 000 Jobs verloren - die schlechteste Bilanz aller Industrieländer.

Woran das liegt, darüber sind sich die Experten weitgehend einig. Kaum ein anderes Land belastet seine Arbeitsplätze mit so hohen Steuern und Abgaben, kaum ein anderes Land hält seine Unternehmen mit so vielen Vorschriften, Auflagen und Verboten davon ab, zusätzliches Personal einzustellen. Deutschland sei "überreguliert", klagen Ökonomen und meinen damit:

Von A wie Arbeitsstättenverordnung bis Z wie Zeitarbeitsgesetz reicht der Katalog der Regeln und Richtlinien, vom Umfang der juristischen Folgeliteratur gar nicht zu reden. Allein der einschlägige Kommentar zum Kündigungsschutzgesetz umfasst 3300 Seiten und wiegt fast zweieinhalb Kilogramm.

Zu größerer Rechtssicherheit hat das nicht beigetragen. So unüberschaubar ist mittlerweile das Dickicht der Gesetze und Grundsatzurteile, dass selbst Experten nicht mehr vorhersagen können, wie Arbeitsgerichtsverfahren - knapp 600 000 im Jahr - enden. Über den "Lotteriecharakter" vieler Urteile spottet der Bielefelder Jurist Peter Schwerdtner, vom "wuchernden Richterrecht" spricht sein Konstanzer Kollege Bernd Rüthers.

Dabei fehlt es Richtern und Politikern nicht am rechten Willen. Stets sind die Urheber der Urteils- und Gesetzeslawine davon überzeugt, mit ihren Taten für das Gute zu kämpfen, für die Rechte der Schwachen und Unterdrückten.

So wie die rot-grüne Regierung, die in den vergangenen drei Jahren den Arbeitsmarkt mit einem gut gemeinten Gesetz nach dem anderen weiter zubetonierte: ob nun mit dem 325-Euro-Gesetz, dem Scheinselbständigkeitsgesetz, dem Teilzeit- und Befristungsgesetz, dem Mitbestimmungsgesetz oder dem Tariftreue-Gesetz - das Ergebnis ist immer das Gleiche: mehr Bürokratie, weniger Jobs.

Beispiel geringfügige Beschäftigung: Die bisherige Pauschalsteuer fließt jetzt an die Renten- und Krankenkasse. Wer seine 325-Euro-Stelle als Nebenjob ausübt, muss den Verdienst voll versteuern.

Für Ralf Stürwold, den Chef eines Wuppertaler Reinigungsunternehmens, bedeutet das: Der Dreck ist geblieben, nur die Mitarbeiter sind weg: "Bei dem Geld schmeißen die halt schnell den Putzlappen in die Ecke." Vor allem die Minijobber, die 325-Euro-Putzer, die nebenberuflich für 5,50 Euro die Stunde schrubben, konnte der Saubermacher nicht mehr halten.

Das Gesetz, das für Ordnung auf dem Arbeitsmarkt und bessere Bilanzen der Sozialversicherung sorgen sollte, treibt Firmen wie die von Stürwold fast in die Pleite.

Etwa 3000 Euro zusätzlich muss der Unternehmer durch die neuen Vorschriften jetzt Monat für Monat zusätzlich für seine 40 Teilzeitputzer hinlegen - ohne dass der Umsatz gestiegen ist. Im vergangenen Jahr machte die Firma Verluste.

Jetzt versucht Stürwold verzweifelt, den Betrieb gesundzuschrumpfen. Die Belegschaft hat er von 130 auf nur noch 55 Mitarbeiter reduziert, die verbliebenen Minijobber müssen 40 Quadratmeter mehr Büroboden pro Stunde putzen. Da werden, räumt er ein, "die Ecken eben nur noch rundgesaugt". Stürwolds Gesamtbilanz: Das Gesetz habe in seinem Betrieb "wie ein Rationalisierungsprogramm" gewirkt. Die Beschäftigten müssen mehr leisten, die Zahl der Arbeitsplätze wurde reduziert.

Beispiel Teilzeit- und Befristungsgesetz: Schon die bisherigen Regeln waren voller Absurditäten - von der Vorgabe, dass Fußballtrainer nur befristet angestellt werden dürfen, wenn sie eine feste Mannschaft leiten, bis zur feinsinnigen Unterscheidung, nach der Saisonbeschäftigte in der Eiscremeproduktion erlaubt, bei der Auswertung des Zahlenlottos aber verboten sind.

Arbeitsminister Riester - darin ganz Sozialdemokrat - hat das Paragrafendickicht weiter angedickt: Um Teilzeitstellen zu fördern und so genannte Kettenarbeitsverträge zu verhindern, darf nun jeder nur einmal im Leben beim selben Arbeitgeber befristet angestellt werden.

In der Praxis sorgt die neue Regel für inquisitorische Szenen bei vielen Einstellungsgesprächen. Manche Chefs filzen jahrzehntealte Personalakten. Andere lassen sich schriftlich bestätigen, dass der Stellensucher nie zuvor einen Firmenausweis besessen hat - auch nicht vor Jahrzehnten als Praktikant.

Vor allem aber sorgte das Gesetz für neue Arbeitslose, weil es flexible Job-Modelle verhindert. So mussten in Bielefeld der Textilhersteller Seidensticker und die Bertelsmann Service Group vor kurzem ein erfolgreiches Beschäftigungsprojekt einstellen.

Die Personalchefs der beiden Firmen hatten festgestellt, dass die Auftragsspitzen ihrer Betriebe zu genau entgegengesetzten Zeiten lagen. Im Frühjahr und Herbst schoben die Seidenstickers Überstunden, im Sommer und Winter die Bertelsmänner. Schluss mit der Mehrarbeit, so die Idee, stattdessen wechseln befristete Beschäftigte saisonweise zwischen den Unternehmen hin und her. Das Modell war ein Erfolg: Die Firmen sparten im Jahr etwa 1800 Überstunden ein, zwölf Arbeitslose fanden einen neuen Job.

Dann kam Riester mit seinem neuen Gesetz - und das vom Arbeitsamt geförderte Projekt war illegal. Die Saisonjobber wurden schließlich nicht einmal im Leben, sondern öfter befristet angestellt. Den Firmen blieb keine Wahl: Sie mussten die neu eingestellten Saisonkräfte wieder feuern.

So auch Anja Scheschinski, 33, die jetzt wieder von 400 Euro Arbeitslosengeld leben muss. Ihre Aussichten sind schlecht, hat ihr der Vermittler vom Arbeitsamt neulich klar gemacht: So viele neue Arbeitslose, und so wenig Jobs. "Das ist doch Blödsinn", dachte sie, "überall fehlt Arbeit, und hier wird sie verboten?" Sie war sicher: "Das muss eine Panne sein."

Es war keine Panne. Es war Methode. Unbürokratisch und flexibel Stellen zu schaffen - in Deutschland steht das unter Generalverdacht. Nicht erst seit Walter Riester und seinem ungestillten Regelungsdrang. Prinzipien waren deutschen Bürokraten schon immer wichtig. Wichtiger als Jobs.

Da mag eine Firma ruhig Pleite gehen - Hauptsache, die Arbeitsverträge werden eingehalten. Dafür sorgen schon die Gerichte. Grundsatz ist schließlich Grundsatz. Soll man etwa einem Betrieb erlauben, das seit Jahren gezahlte Urlaubsgeld zu kürzen, nur weil der Umsatz plötzlich einbricht? Geht nicht, sagen die Gerichte; ist die Prämie einmal zur Gewohnheit geworden, muss sie weiter gezahlt werden.

Schließt das Krisenunternehmen dagegen gleich eine ganze Abteilung und feuert die Mitarbeiter, reagieren die Richter deutlich milder - ein Ausdruck "freier unternehmerischer Entscheidung" eben und damit meistens zulässig.

Warum sollte es auf dem Arbeitsmarkt auch anders zugehen als in den übrigen Abteilungen des Wohlfahrtsstaats? Nicht überall, wo sozial draufsteht, ist auch sozial drin; nicht alles, was Schutz verspricht, schafft auch wirklich Sicherheit. Gesetze, die irgendwann einmal Entlassungen verhindern sollten, sorgen längst dafür, dass Jobs vernichtet werden.

Dabei sind in kaum einem anderen Land bei Kündigungen so viele formale Vorschriften zu beachten wie in Deutschland. Ein blauer Brief allein, urteilte jüngst das Mainzer Landesarbeitsgericht, reicht nicht. Der Unternehmer muss sich selbst davon überzeugen, dass die Kündigung auch angekommen ist.

Das soll Arbeitnehmer vor einem vorschnellen "Siesind-gefeuert-und-zwar fristlos" schützen. In der Praxis aber erweisen sich solche Urteile vor allem als Nachteil für Kleinbetriebe. Während die Personalabteilungen großer Konzerne auch noch die letzten Urteile zum "Beschäftigungsförderungsergänzungsgesetz" griffbereit im Archiv haben und Abfindungen aus gut gefüllten Entlassungskassen begleichen, treibt die Schutzwut manchen Handwerksbetrieb in den Ruin.

Sven Romeike zum Beispiel, Malermeister aus dem Berliner Vorort Spandau, dessen 70 Jahre alter Familienbetrieb darunter leidet, dass ihm die Konkurrenz aus Brandenburg mit ihren bis zu vier Euro niedrigeren Tarifen einen Auftrag nach dem anderen wegschnappt.

Was also tun?

Seinen Leuten einfach weniger als den Tarif von derzeit 12,59 Euro zahlen wie die ostdeutsche Konkurrenz? Zu riskant, denn ein einmal verabredeter Lohn kann vor den Arbeitsgerichten jederzeit eingeklagt werden, einschließlich Nachzahlung der letzten Monate.

Mit den Beschäftigten einen Vertrag über Gehaltssenkung schließen? Ausgeschlossen, denn der Berliner Malertarif ist für allgemein verbindlich erklärt: Alle Betriebe müssen sich daran halten.

Die Hälfte seiner 13 Leute entlassen und sich mit dem geschrumpften Betrieb eine neue Marktnische suchen? Zu teuer, denn allein für die Entlassung seiner drei ältesten Mitarbeiter hätte er Abfindungen von 128 000 Euro zahlen müssen.

"Paradox" findet das der Unternehmer. Auf legalem Weg darf er weder seine Lohnkosten senken noch den Personalbestand verringern. "Wie soll ich da auf eine Krise reagieren?"

Romeike hat sich für die einzige Alternative entschieden, die ihm die Arbeitsmarktregeln noch lassen: Er gibt seinen Betrieb auf, den Beschäftigten hat er bereits fristgerecht gekündigt. Romeike sucht jetzt eine Stelle als angestellter Meister, denn ein Unternehmen darf er vorerst nicht mehr führen - seine Ex-Mitarbeiter könnten ihn auf Wiedereinstellung verklagen.

Vor allem solche Fälle sind es, die Experten zu ihrem vernichtenden Urteil über das deutsche Arbeitsrecht führen. "Zu viel externe und zu wenig interne Flexibilität", beklagt etwa der Kölner Arbeitsrechtler Peter Hanau: Anstatt "die Arbeitsverhältnisse an veränderte wirtschaftliche Umstände anzupassen", werden sie in Deutschland allzu oft "einfach aufgehoben".

Das Verfahren, nach dem Jobs verhindert und der Arbeitsmarkt zementiert wird, ist dabei stets das gleiche. Erst beschließt die Regierung ein Gesetz, dann dehnen die Gerichte die Sonderregelung auf weitere Fälle aus. Schließlich erlässt die Regierung ein neues Gesetz, um den Stand der Rechtsprechung für alle festzuschreiben.

Nach diesem Muster haben Politiker und Richter die Vorschriftenspirale immer höher geschraubt, nicht ahnend, dass sie in ihrem Ordnungswahn manche Beschäftigtengruppen mittlerweile mehr vor der Arbeit schützen als vor ihren Arbeitgebern.

Gleichzeitig drangsaliert der Staat die Unternehmen mit ständig neuen Regeln, Vorschriften und Auflagen, die vor allem für Kleinbetriebe zur Existenzbedrohung werden können. Mehr als 30 Milliarden Euro kostet es Deutschlands Unternehmer jedes Jahr, im Staatsauftrag die Lohnsteuer einzuziehen, Statistiken zu führen oder Brandschutzseminare zu besuchen, ergab eine Untersuchung der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer.

Wer eine Firma gründet, darf seine Leute nicht einfach in der Garage werkeln lassen. Er muss die 58 Paragrafen der deutschen Arbeitsstättenverordnung beachten, die nichts ungeregelt lässt, was in Betriebsräumen irgendwie geregelt werden kann: von der Zahl der Papierkörbe (pro Büro einer) über die Art der Pausenraumtische (leicht zu reinigen) bis zur Temperatur der Betriebstoilette (21 Grad).

Firmenchefs müssen erfassen, wenn ein Mitarbeiter mehr als 20 Kilogramm hebt (Lastenhandhabungsverordnung) oder sich eine Aspirin-Tablette aus dem firmeneigenen Arzneischrank holt (Unfallverhütungsvorschrift). Ein Betriebsarzt ist zu bestellen, ein Sicherheitsingenieur und Beauftragte für Abwasser, Datenschutz, Qualität, Störfälle oder Umwelt.

Und wehe, wenn eine der 8490 staatlichen Einzelvorschriften missachtet wird. Dann droht Bußgeld - 25 000 Euro zum Beispiel, wenn der Datenschutzbeauftragte nicht rechtzeitig bestellt wird.

Der Irrsinn hat Folgen. Der Bürokratie-Overkill schmälert nicht nur den Gewinn der Firmen, er kostet Jobs. In anderen Ländern waren es vor allem die Kleinbetriebe, die zum Arbeitsplatzwunder der vergangenen Jahre beigetragen haben.

In Deutschland dagegen nahmen die Mittelstandsjobs nur mäßig zu. Die Wissenschaftler im Bündnis für Arbeit haben den Rückstand in Zahlen gefasst: In den neu gegründeten Betrieben der Bundesrepublik wächst die Job-Zahl nur halb so schnell wie im Durchschnitt der Industrieländer.

Wie kaum eine andere Nation leidet Deutschland darunter, dass jede Regierung es bislang versäumt hat, überkommene Berufsordnungen wie das Handwerksrecht anzutasten. Zu groß ist die Angst vor den mächtigen Lobbyisten, den Handwerkskammern oder Gewerkschaften, denen es bisher stets gelungen ist, ihre Pfründen- und Privilegienwirtschaft zu verteidigen. Und so wird dieses Relikt aus dem Mittelalter auch weiter viele selbständige Existenzen und Arbeitsplätze vernichten.

Wer sich in einem der 94 Handwerksberufe selbständig machen will, braucht in der Regel einen Meisterbrief der Handwerkskammer. Sonst läuft nichts. Ob als Augenoptiker oder Zupfinstrumentenbauer: Wer ohne das Zeugnis arbeitet, verstößt gegen Paragraf 1 des "Gesetzes zur Bekämpfung der Schwarzarbeit" und muss mit bis zu 100 000 Euro Strafe rechnen.

Wie schön für die Handwerkskammern, dass sie es sind, die definieren, was überhaupt als Handwerk gilt. Kein Wunder, dass sie sich nur allzu gern vor der unliebsamen Konkurrenz abschotten - mit allen staatlichen Zwangsmitteln, die ihnen dabei zur Verfügung stehen.

So bekam der Dortmunder Schlosser Heino Eckardt vor zweieinhalb Jahren Besuch vom Ordnungsamt. Sechs Beamte durchsuchten seine Werkstatt und seine Privaträume, wälzten Geschäftsunterlagen - und verschwanden schließlich mit einem Packen Rechnungen. Eckhardt war sich keiner Schuld bewusst. Steuern und Sozialabgaben hatte er stets ordentlich abgeführt. In seiner kleinen Werkstatt verkaufte er Fenstergitter, Gartentore, Schlösser und Bewegungsmelder. Wo war das Problem?

Wenige Wochen später wusste er die Antwort. Er habe die Teile bei seinen Kunden mitunter auch montiert und sich damit "als Metallbauer" betätigt, befand das Ordnungsamt. Das sei ein "Vollhandwerk", und das dürfe Eckhardt nicht ausüben. Auch nicht, wenn er es gelernt hat. Eckhardt hat gegen den Bescheid geklagt - und verloren: Das Amtsgericht Dortmund glaubte dem Gutachter der Handwerkskammer und verurteilte den Schlosser zu 20 000 Euro Bußgeld. "Wenn ich die zahlen muss", sagt Eckhardt, "weiß ich nicht, ob ich den Betrieb weiterführen kann."

Der strikte Meis-terzwang, den es in Europa sonst nur noch in Luxemburg gibt, wirkt als erstklassige Bremse für Selbständigkeit und Beschäftigung. So liegt die Gründungsquote im Handwerk mit fünf Prozent deutlich unter der anderer Wirtschaftsbereiche (elf Prozent). Würde die Handwerksordnung gelockert, schätzen Experten, könnten 500 000 neue Jobs entstehen.

Das Relikt aus längst vergangenen Zeiten sorgt nur bei einer Berufsgruppe für Vollbeschäftigung: den Juristen. Mal müssen die Gerichte entscheiden, ob eine ghanaische Afroshop-Betreiberin in Hamburg ihren Kunden Rastazöpfe machen darf, ohne dafür eine ordentliche deutsche Friseurprüfung abgelegt zu haben. Mal sollen sie prüfen, ob ein türkischer Unternehmer aus Bremen Fladenbrot backen darf, obwohl er kein Bäckermeister ist.

Ginge es streng nach Handwerksordnung, müssten zudem "auch 90 Prozent aller Computer-Service-Betriebe dichtmachen", sagt Wirtschaftsjurist Horst Mirbach. Schließlich gehören Reparatur und Vernetzung der Rechner zu den Aufgaben eines "Informationstechnikers" - seit 1998 eingetragener Handwerksberuf. Dass in dieser Branche viele Autodidakten arbeiten, die auch die meisten der 43 000 Betriebe in der Informationstechnologie leiten, spielt dabei keine Rolle.

Experten fordern schon seit Jahren, dass diese arbeitsplatzschädlichen Regeln endlich verschwinden sollten. Vergeblich. So empfahl die Monopolkommission der Bundesregierung schon mehrfach, die Handwerksordnung weitgehend abzuschaffen.

Schwieriger ist es, das deutsche Arbeitsrecht zu entrümpeln. Wer als Politiker fordert, den Kündigungsschutz oder die Leiharbeitsregeln zu lockern, kann sich gleich die Wortfolge "soziale Kälte" auf die Stirn tätowieren lassen. Gerade in Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs sind radikale Reformen des Arbeitsmarkts schwierig. Das weiß auch Gerhard Schröder - und vergisst dabei gern, dass er das Problem auch in Zeiten des Aufschwungs nicht anpacken wollte.

Dabei würden schon kleine Korrekturen, die in vielen europäischen Ländern seit Jahren Praxis sind, zunächst völlig ausreichen. So schlagen die Experten des deutschen Juristentages vor:

Doch selbst auf diese Minireform will Rot-Grün verzichten. Bis zur Wahl, so hat die Regierung mehrfach angekündigt, wolle man keinen Ärger mit Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften haben.

Und so werden die Erfahrungen eines bekannten Ex-Anwalts aus Hannover mit dem deutschen Arbeitsrecht wohl vorerst unberücksichtigt bleiben. Der hatte noch vor wenigen Monaten geklagt, dass viele Arbeitnehmer vor Gericht lediglich "finanzielle Ansprüche" durchsetzen wollten. Nicht "um den Job" sei es den Klägern gegangen, sondern darum, "einen Deal zu machen", schimpfte der Jurist. Da müsse der Gesetzgeber eigentlich dringend etwas ändern.

Es war eine Art Selbstaufforderung. Der ehemalige Anwalt heißt Gerhard Schröder und ist seit dreieinhalb Jahren Kanzler der Bundesrepublik Deutschland.
 
 

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