Der Spiegel 40/1996

Der Wachstumswahn
Thilo Bode
(Geschäftsführer von Greenpeace International)



    Mit atemberaubender Geschwindigkeit ist in Deutschland der Umweltschutz von der Tagesordnung der Politiker verschwunden. In der Debatte um die Reform des Wohlfahrtsstaates entpuppt sich das hochgelobte Umweltbewußtsein der Deutschen als Schönwetterveranstaltung. Droht der streichung des Brillengestells auf Kassenkosten, ist der Schutz der Wälder plötzlich zweitrangig. Umweltengagement wird zur verbalen Pflichtübung und beschränkt sich gerade noch darauf, mit missionarischem Eifer Müll zu trennen und die Ökotaste bei der Waschmaschine zu nutzen.

    Wenn es wegen der Ladenschlusszeiten zu Massendemonstrationen und fast zu einer Koalitionskrise kommt, die Politiker aber nicht einmal mehr in ihren Sonntagsreden von der ökologischen Bedrohung sprechen, dann zeigt das deutlich, wie wenig das Schicksal der ERde und unserer Nachkommen tatsächlich noch interessiert. Doch um die Reform des sozialstaats steht es keinen Deut besser. Etwas Selbstbeteiligung in der Krankenkasse da, etwas längere Lebensarbeitszeit dort werden nicht aus dem Dilemma helfen. Mit den vorgesehenen Maßnahmen kann die Regierung ihr Budget nicht konsolodieren. Für einen wirklichen Neubeginn in der öffentlichen Verwaltung, ein Umsteuern bei Subventionswirtschaft, Rentenversicherung, Arbeitslosigkeit, Krankenversicherung, Hochschulsystem und Bundeswehr fehlt es der Politik an Visionen und Tatendrang.
Die Krise der Ökologie und die Krise des Sozialstaats zeigen das gleiche fatale Muster: Die Wohlstandsgesellschaft lebt über ihre Verhältnisse. Sie verschuldet sich unablässig bei der Zukunft. Sie setzt auf individuelle Risikoabsicherung, Zukunftsrisiken für die Allgemeinheit werden verdrängt. sie schiebt immer mehr Sanierungsfälle in das nächste Jahrtausend und verbraucht gleichzeitig die endlichen Ressourcen. Die Flickschusterei wird nicht lange halten.
 
    Die Parteien sehen die Krise nur als Problem, nicht als Chance. Dabei ließen sich Sozialstaatreform und zukunftsorientierte Umweltpolitik sehr gut miteinander verknüpfen. Würden die Politiker die notwendigen sozialen Einschnitte mit der Vision von der umweltverträglichen Wirtschaftsordnung verbinden, würden die Menschen schmerzhafte Änderungen weit eher akzeptieren. Doch die chance wird in Bonn nicht genutzt.

Möglichkeiten gibt es genug: Nahezu alle derzeit diskutierten steuerpolitischen und finanzpolitischen Maßnahmen lassen sich auch ökologisch gestalten. Statt die Mehrwertsteuer zu erhöhen, sollte Bonn den Naturverbrauch besteuern, insbesondere den Energieverbrauch. Durch eine ökologische Steuerreform können auch die Lohnnebenkosten gesenkt werden. Mit den Einnahmen aus der Energiesteuer können die Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung reduziert werden.

    Die hohen Arbeitskosten führen ja nicht nur zu Wettbewerbsnachteilen, sondern haben auch perverse ökologische Auswirkungen. Es lohnt sich für Unternehmer eher, einen Arbeitnehmer zu entlassen, als Energie und Rohstoffe zu sparen, die es vergleichsweise umsonst gibt. Ein Radiowecker kostet 20, die Reparatur aber 65 Mark.

    Politik und Wirtschaft, allen voran die Lobby der chemischen Industrie, leugnen die Vorteile einer Energiesteuer, obwohl diese Vorteile wissenschaftlich solide fundiert sind. Schon 1994 hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung ausgerechnet, dass durch eine jährlich um fünf Prozent steigende Steuer auf den Primärenergieverbrauch in den nächsten zehn Jahren bis zu eine Million Arbeitsplätze geschaffen werden können - vorausgesetzt, mit den Steuereinnahmen werden die Lohnnebenkosten gesenkt. Negative Auswirkungen auf Wachstum und Außenhandel seien nicht zu erwarten. Die deutschen Exporteure, besonders Maschinenbau und Elektroindustrie, würden an Konkurrenzfähigkeit gewinnen, gleichzeitig würde der Kohlendioxidausstoß um 20 bis 25 Prozent gemindert. Doch die energiesteuer hat derzeit keine Chancen mehr - wie die meisten der langfristig angelegten Reformprogramme. In Zeiten schöner Konjunktur entsteht kein Zwang zu handeln, und in Kristenzeiten heißt es, solch ein Instrument sei zu riskant, weil die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Unternehmen darunter leiden würde.

    Der Einwand ist kurzfristig und defensiv. Natürlich gibt es nicht nur Gewinner einer Energiesteuer, sondern auch Verlierer wie etwa neben der Chemieindustrie die Eisen- und Stahlindustrie. Wer das leugnet wie manche Apologeten (griech.: Verteidiger eines (literarischen) Werkes) einer ökologischen Steuerreform, erweist der Sache keinen guten Dienst. Aber der weltweite Wettbewerb zwingt unsere Wirtschaft in den nächsten Jahren ohnehin zu gewaltigen Veränderungen. Energieintensive Grundstoffe wie Stahl und Polyethylen können auch unsere osteuropäischen Nachbarn produzieren. Warum nicht den unausweichlichen und schmerzhaften Strukturwandel abmildern und intelligente Arbeitsplätze schaffen?

    Die Opposition der meisten Unternehmer gegen ein ökologische Steuerreform beruht auf Erfahrungen mit Bonner Umweltpolitiker, die zwar Marktwirtschaft predigen, tatsächlich aber mit unzähligen Umweltschutzverordnungen und einer aufgeblasenen Umweltbürokratie besonders mittelständische Unternehmen lähmen.
 
    Anstatt Energieverbrauch und Abfälle, Ressourcen und Abwässer zu besteuern und dort mit Verordnungen zu arbeiten, wo der Markt ökologisch versagt, steigt die Flut neuer Vorschriften. Ihre ökologische Wirkung ist begrenzt. Grotesker Auswuchs dieser Umweltpolitik ist der "Grüne Punkt". Das Unternehmen hat einen gigantischen Verwaltungsapparat kreiert, ist viel zu teuer und von zweifelhaftem ökologischen Nutzen.

    Diese kurzsichtige Umweltpolitik fördert "End of pipe" - Technologien. Luftverschmutzung, Abwässer und Abfälle werden nicht von vornherein vermieden, sondern die Verursacher sollen sie nachträglich durch Filter, Kläranlagen und Deponien beseitigen. Volkswirtschaftlich macht das wenig Sinn.

    Auch die aufstrebenden Industrienationen setzen auf diese Reparatur-Technolgien. Allerdings verzichten sie gleich auf Filter, Kläranlagen und eine geordnete Beseitigung der Abfälle. Die Konsequenz ist fatal: Es droht ein nicht zu gewinnender Wettlauf um die niedrigsten Umweltstandards.

    Die richtige Antwort wäre eine umweltpolitische Offensive. Wir sollten neue Technologien entwickeln, die Umweltver- schmutzung durch geschlossene Kreisläufe von vornherein vermeiden. Die Zellstoffindustrie, unter Dauerattacken der Umweltschützer hat vorgemacht, wie es geht. In Schweden arbeiten praktisch abwasserfreie Zellstoffwerke, die sämtliche Reststoffe wieder verwerten. In Asien und Lateinamerika dagegen vergiften westliche Konzerne und einheimische Produzenten mit gewaltigen Chlorfrachten die Gewässer und unterbieten - auf Kosten der Umwelt und der Menschen - Hersteller in Industrieländern.

    Die Industrieländer müssen im eigenen Interesse den Umweltschutz als Thema auf den wichtigen internationalen Konferenzen besetzen. Die befassen sich bisher mit Dollarkurs und Zinssatz, vielleicht auch mit der Drogenmafia, aber nicht mit der Zukunft der Menschheit.

    Anstatt die Löhne zu senken und die neuen Wettbewerber auf dem Weltmarkt durch niedrige Produktionskosten zu attackieren, müssen wir ein menschenwürdiges und intelligentes Gegenmodell anbieten. Dazu gehören integrierte Umwelt- technologien und ein nach ökologischen Gesichtspunkten gesteuerter Welthandel, bei dem die Wettbewerbsverzerrungen durch unterschiedliche  ökologische Standards ausgeglichen werden.

    Die Politiker fordern dagegen, erstaunlich phantasielos, die Öffnung aller Märkte. Dadurch sollen sie das von allen ersehnte wirtschaftliche Wachstum erzeugen, das den Sozialstaat heilt, die Steuereinnahmen steigert, die Arbeitslosigkeit überwindet.

    Mit fast schon religiöser Inbrunst verherrlichen die Staatschefs der sieben wichtigen Wirtschaftsnationen die Globalisierung als "Quelle der Hoffnung für die Zukunft." Ein ökologischer Alptraum: Wachstum führt letztlich zu vermehrtem Ressourcen- und Energieeinsatz und damit zum Umweltdesaster. Zieht man die Kosten des Naturverbrauchs ab, wächst der Wohlstand in den Industrieländern schon heute kaum noch.

    In der Dritten Welt gar wird Wachstum oft nur unter Substanzverlust erzielt. Das afrikanische Wirtschaftswunderland Ghana beispielsweise hat in den letzten Jahren Rohstoffe im Wert von 14 Prozent des Bruttosozialprodukts verbraucht. Trotz hoher Investitionen ergab sich, so errechnete die Weltbank, ein volkswirtschaftlicher Vermögensverlust von etwa 11 Prozent. Das heißt, real haben sich die Zukunftsperspektiven Ghanas verschlechtert.

    Müssen wir uns zwischen Sozialstaat und Ökologie entscheiden? Doch wohl nur, wenn rücksichtsloses Wachstum auch neue Arbeitsplätze produziert. Aber dafür gibt es keinen Beweis. In den Industrieländern gibt es heute 36 Millionen. Trotz Wachstums steigt die Arbeitslosenrate ständig und alle Prognosen deuten darauf hin, dass dies so weitergeht.

    Die Wachstumsraten, die erforderlich sind, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen oder zumindest drastisch zu reduzieren, sind ökonomisch nicht realisierbar und ökologisch ein Desaster. Ohnehin wird das Wachstum von neuen Maschinen produziert, nicht von neu eingestellten Arbeitskräften.

    Auch das Geheimrezept aller ökologisch bewegten Volksvertreter, "qualitatives und ökoeffizientes Wachstum", hat langfristig einen ähnlichen Effekt. Dieses "Wachstum light" soll das schmerzlindernde Wundermittel sein, das zu Vollbeschäftigung führt und gleichzeitig die Umwelt entlastet. Welcher Politiker würde diese Illusion seinen Wählern nicht gern verkaufen? Neue Technologien sollen dafür sorgen, dass wir mit immer weniger Energie und Rohstoffen immer mehr Güter produzieren.

    Bisher jedoch fraß das Wirtschaftswachstum die Energieeinsparungen gleich wieder auf. Die Deutschen brauchen heute nur noch halb so viel Energie, um einen Quadratmeter Wohnfläche zu beheizen, doch die Wohnfläche pro Bewohner hat sich mehr als verdoppelt. Automotoren brauchen immer weniger Sprit, um ein PS Leistung zu erzeugen. Doch stärkere Motoren und mehr Autos lassen den Spritverbrauch ständig steigen.

    Technologische Neuerungen befreien die Industrieländer also nicht aus der ökologisch tödlichen Wachstumsfalle. Irgendwann sind die Maschinen nicht mehr zu verbessern - und es steigt die Umweltbelastung. Die Gesetze der Thermodynamik sind nicht verhandelbar.

    Wenn also Wachstum weder Arbeitslosigkeit noch Umweltbelastungen senkt, sollten wir uns von diesem Dogma verabschieden. die Utopie, die es für das nächste Jahrhundert zu konkretisieren heißt, ist ein sozial verträgliches Leben ohne materielles Wachstum.

    Allerdings kann kein Land allein umsteuern. Es rächt sich, dass die Politiker das gemeinsame Europa nur als Wirtschaftsraum planen und nicht als ein Europa für die Umwelt. Dann könnten wir, ohne Wettbewerbsnachteile befürchten zu müssen, ein ökologisches Steuersystem einführen, Umweltschutzmaßnahmen durchsetzen und den Welthandel ökologisch gestalten.

    Für die langfristige Sanierung des Sozialstaats bieten sich umweltverträgliche Instrumente an. Doch die Politiker verhalten sich so, als habe es eine Konferenz von Rio, als habe es die zahllosen Bekenntnisse zur Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen nie gegeben. Die unermeßlich reichen Industrieländer schüren den Globalisierungswettlauf ohne Rücksicht auf ökologische Verluste. Sie sollten sich besser fragen, ob es nicht möglich wäre, aus weniger Rohstoffen und Energie etwas mehr Zufriedenheit und soziale Gerechtigkeit zu erzeugen.
 
 
 

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