Portrait unserer Namensgeberin
Anita Augspurg (1857–1943)
„Was verstehen wir unter dem Rechte der Frau? Nichts anderes als das Recht des Menschen überhaupt.“
Die deutsche Frauenrechtlerin Schauspielerin und erste deutsche Juristin gilt als eine der bedeutendsten und mit ihren unkonventionellen Methoden schillerndsten Figuren des radikalen Flügels der Historischen Frauenbewegung. Gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin Lida Gustav Heymann gründet sie 1902 den ersten deutschen ‚Verein für Frauenstimmrecht’ und will die radikalen Methoden der englischen Suffragetten – Großdemonstrationen, Hungerstreiks – nach Deutschland holen. Die Zögerlichkeit und Kleingeistigkeit ihrer deutschen Schwestern ist Augspurg stets ein Gräuel, so dass sie Vereinsämter meist nur kurz übernimmt. Als sie erkennt, dass die Frauenbewegung ohne solide juristische Kenntnisse nicht wirkungsvoll in Gesetzgebungsverfahren eingreifen kann, geht sie zum Jurastudium in die Schweiz, das sie im Alter von 40 Jahren mit der Promotion abschließt. Von da an bombardiert sie den deutschen Reichstag, in dem sie mit einer Sondergenehmigung ein- und ausgeht, mit ihren Gesetzesvorlagen. Sie kämpft für die Reform des Familienrechts, die Abschaffung der Prostitution und die Streichung des § 218. Und sie gibt mehrere Zeitschriften heraus: z.B. ,Parlamentarische Angelegenheiten und Gesetzgebung : Beilage der Frauenbewegung und Zeitschrift für Frauenstimmrecht' (beides Beilagen zur Zeitschrift ,Die Frauenbewegung') sowie in der Weimarer Republik ,Die Frau im Staat'. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist sie eine der wenigen pazifistischen Stimmen im kriegseuphorisierten Deutschland. Bereits 1923 fordern Augspurg und Heymann die Ausweisung Hitlers aus Deutschland. 1933 müssen die Nazi-Gegnerinnen ins Zürcher Exil flüchten, von wo sie nicht mehr nach Deutschland zurückkehren werden.
Anita Augspurg wird am 22. September 1857 im niedersächsischen Verden an der Aller geboren. Sie ist das fünfte und mit Abstand jüngste Kind der liberalen Familie. Vater Wilhelm Augspurg ist Obergerichtsanwalt und war wegen seiner Beteiligung an der 1848er Revolution in Haft gewesen. Die Mutter Augustine Langenbeck stammt aus einer Mediziner- und Pastorenfamilie und lässt ihren Kindern – auch den Mädchen – „völlige Freiheit, sich nach eigenen Vorstellungen zu entwickeln“. Dennoch verbringt Anita nach Abschluss der Schulzeit „fünf bittere Jahre“ des „Höhere-Töchter-Daseins“. Um weiterem Warten auf die vorbestimmte Ehe zu entgehen, geht Augspurg 1878 mit Erreichen ihrer Volljährigkeit nach Berlin, wo sie ihr Lehrerinnenexamen ablegt. Als ihr ihre Großmutter ein Erbe hinterlässt, bleibt die nun finanziell Unabhängige in der Hauptstadt. Sie absolviert eine Schauspielausbildung und spielt mehrere Jahre lang an wechselnden Theatern. 1884 beschließt sie, „anstatt die verklungenen Ereignisse der Geschichte in Bühnendarstellungen zu mimen“, von nun an mitzuwirken am „sich vollziehenden Wandel der Dinge in Staat und Gesellschaft“.
Zunächst geht Augspurg in die ihrer Ansicht nach „vorurteilsfreieste Stadt“ Deutschlands, nach München. Dort eröffnet sie gemeinsam mit einer Freundin ein Fotoatelier, das nicht nur durch Porträts von Frauen in bisher ungekannten Posen (in Denkerhaltung, am Schreibtisch) auffällt, sondern auch durch das unerhörte Auftreten seiner Besitzerinnen: Die beiden Frauen trugen Kurzhaarschnitt, radelten und ritten und führten in Schwabing eine Art Salon.
1891 beginnt das frauenpolitische Engagement Augspurgs mit ihrem Beitritt zum Verein ‚Frauenbildungsreform’, der den uneingeschränkten Zugang zu Bildung für Mädchen und die Einrichtung von Mädchengymnasien fordert. 1893 wird auf Initiative des Vereins in Karlsruhe das erste deutsche Mädchengymnasium gegründet. Anlässlich der Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuches erkennt Augspurg, dass die Frauen „zur Wahrnehmung und Sicherung ihrer Rechte über die nötigen juristischen Kenntnisse“ verfügen müssen. Da in Deutschland das Frauenstudium noch verboten ist, geht Augspurg 1893 nach Zürich, promoviert dort und kehrt vier Jahre später als Deutschlands erste Juristin zurück.
Bereits 1895 hatte die Jurastudentin Augspurg ihre frisch erworbenen Kenntnisse dazu genutzt, das Bürgerliche Gesetzbuch wegen der darin vorgenommenen Entrechtung der Frauen scharf zu kritisieren und eine Kampagne zur Reformierung zu starten. Die im Familienrecht formulierten Gesetze normierten „nur das Maß von Unrecht, das man, ohne mit ihnen in Konflikt zu geraten, seiner Ehefrau zufügen darf“. Dazu gehörte das Verfügungsrecht des Ehemannes über das Vermögen seiner Frau und die gemeinsamen Kinder. Unter solchen Gesetzen komme die Ehe für eine Frau einem „bürgerlichen Selbstmord“ gleich. 1896 wird das BGB im Reichstag verabschiedet – ohne die Forderungen von Augspurg und ihren Mitstreiterinnen auch nur in Ansätzen zu berücksichtigen.
Im selben Jahr lernt Anita Augspurg auf der Internationalen Frauenkonferenz in Berlin Lisa Gustava Heymann kennen, die später ihre Lebengefährtin wird. Nach ihrer Promotion zieht Augspurg wieder nach Berlin, wo sie – gemeinsam mit Heymann und Minna Cauer – zum Kern der radikalen Frauenbewegung gehört.
Aus der Internationalen Frauenkonferenz in Berlin entsteht die ‚International Union of Progressive Women’, gemeinsam mit anderen Radikalen wie Minna Cauer und Hedwig Dohm gründen Heymann und Augspurg die deutsche Sektion, den ‚Verband fortschrittlicher Frauenvereine’ als radikalen Gegenpol zum gemäßigten ‚Bund deutscher Frauenvereine’.
Sein Programm: politische Rechte für Frauen, allen voran das Wahlrecht; Bekämpfung der Doppelmoral der Gesellschaft gegenüber ledigen Müttern und Prostituierten; Abschaffung der Höhere-Töchter-Schulen zugunsten gleicher Bildungschancen für Mädchen; Zusammenarbeit mit der Arbeiterinnen-Bewegung.
1902 gründen Augspurg und ihre Gefährtinnen den ‚Verein für Frauenstimmrecht’. Ihr Versuch, auch die Sozialdemokratinnen für ihren Kampf zu gewinnen, scheitert. Die Genossinnen fühlen sich stärker ihren Genossen verpflichtet als den „bourgeoisen“ Frauenrechtlerinnen. Auch ihre forschen Kampfformen stoßen nicht immer auf Zustimmung. Als Augspurg und Heymann im Juni 1908 in London Englands einem Protestmarsch mit 750.000 Suffragetten – Englands größter Demonstration aller Zeiten – beiwohnen und eine solche begeistert auch in Deutschland initiieren wollen, scheitern sie an der Zögerlichkeit ihrer Schwestern.
Als im Juli 1914 der erste Weltkrieg ausbricht, lebt Augspurg schon seit einigen Jahren mit Lida Gustava Heymann im Münchner Umland, wo das Paar (das wegen seiner Ablehnung der „brutalen Schlacht- und Schächtmethoden" vegetarisch lebt) einen Bauernhof betreibt. Mit seiner scharfen Kritik am Krieg steht das Paar in der kriegseuphorisierten Nation selbst in Frauenrechts- und Intellektuellenkreisen nahezu allein. Beide gehören zu den Organisatorinnen des ‚Internationalen Frauen-Friedenskongresses’ 1915 in Den Haag.
Nach Ende des Ersten Weltkriegs – Frauen haben nun das Wahlrecht – gibt Augspurg gemeinsam mit Heymann die Zeitschrift ,Die Frau im Staat' heraus, die später von den Nazis verboten wird. Als in München die Bayerische Republik ausgerufen wird, wird Anita Augspurg Mitglied des provisorischen Parlaments. Bei späteren Wahlen kandidiert sie für die USPD, bekommt aber kein Mandat.
Im Jahr 1923 – Nazitruppen überfallen bereits Versammlungen und begehen politische Morde – fordern Heymann und Augspurg die Ausweisung des Österreichers Hitler aus Bayern: Nach der Störung einer Versammlung der ‚Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit’ durch Nazitruppen versuchen die beiden in einem Gespräch mit dem bayerischen Innenminister Schweyer, diesen von der Notwendigkeit der Ausweisung zu überzeugen. Schweyer lehnt ab.
Bei der Machtergreifung zehn Jahre später befinden sich Augspurg und Heymann gerade auf einer Auslandsreise. Das Paar, das seit 1923 auf der Liquidationsliste der Nazis steht, geht ins Schweizer Exil – und kämpft von dort aus weiter gegen Faschismus und für Frieden.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Befreiung vom Nationalsozialismus erlebt Anita Augspurg nicht mehr. Zwei Jahre nachdem Lida Gustava Heymanns Lebenserinnerungen ‚Erlebtes – Erschautes’, die Augspurg mitverfasst hat, erschienen sind, stirbt Augspurg im Dezember 1943 in Zürich, wenige Monate nach ihrer Lebensgefährtin.
Nach 1945 geriet Anita Augspurg völlig in Vergessenheit. Sie wird erst von der Neuen Frauenbewegung wiederentdeckt. 1972 erscheint ‚Erlebtes – Erschautes’ neu. Im Jahr 2002 erscheint die Heymann/Augspurg-Biografie ‚Die Rebellion ist eine Frau’ von Ursula Scheu und Anna Dünnebier.
(Quelle: www.frauenmediaturm.de/themen-portraets/feministische-pionierinnen/anita-augspurg)